Armutsgefährdung in Niedersachsen im Jahr 2022 – Teil 2: materielle und soziale Entbehrungen

Alte kaputte Schuhe eines kleinen Jungen als Symbol für Kinderarmut
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Von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung waren 2022 in Niedersachsen 7,3% der Bevölkerung betroffen. Sie mussten demnach aus finanziellen Gründen auf viele Dinge verzichten, die zum allgemeinen Lebensstandard gehören. Darunter fallen Urlaube, Treffen mit Freunden und Familie, um etwas essen oder trinken zu gehen oder auch das Stemmen von unerwartet hohen Ausgaben. Das Thema Einkommensarmut und vor allem die berechneten Quoten von armutsgefährdeten Personen sind in einem eigenen Beitrag behandelt worden.

Fast ein Viertel der Menschen in Niedersachsen von Armutsbedrohung oder sozialer Ausgrenzung betroffen

Zwar bildet die Armutsgefährdungsquote die ungleiche Verteilung von Einkommen ab, sie zeigt jedoch nicht direkt, was dies für die betroffenen Menschen im täglichen Leben für Auswirkungen in Bezug auf Ausgrenzung oder soziale Teilhabe hat. Dabei stellt sich die Frage, was Armutsgefährdung für Menschen bedeutet, auf was sie aus finanziellen Gründen verzichten und welche Ausgrenzung sie infolge dessen erfahren.

Genauso gibt es Menschen, deren kulturelle oder soziale Teilhabe eingeschränkt ist, obwohl ihr Haushaltseinkommen über der Armutsgefährdungsschwelle liegt. In Zeiten hoher Inflation wie im Jahr 2022 – insbesondere aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine – ist dies eine Folge der deutlichen Reallohnrückgänge von durchschnittlich 4,5%.

Berücksichtigt wird diese Ausgabenseite im sogenannten AROPE-Indikator (At risk of poverty or social exclusion) aus der Statistik „Leben in Europa“ (EU-SILC). Der AROPE-Indikator erfasst dabei:

  • Armutsgefährdung,
  • erhebliche materielle und soziale Entbehrungen bei einem Haushalt und
  • Haushalte mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.

Wenn mindestens eines der drei Kriterien vorliegt, ist dieser Haushalt beziehungsweise sind seine Mitglieder nach der EU-Definition von „Armutsbedrohung oder sozialer Ausgrenzung“ betroffen.

In Niedersachsen betrug 2022 der Anteil der Bevölkerung, der mit „Armutsbedrohung oder sozialer Ausgrenzung“ konfrontiert war, 23,3%. Das war mehr als im Bundesdurchschnitt (21,1%) und im EU-weiten Vergleich (21,6%) (vgl. Tabelle T1 und A1).

A1: In Niedersachsen betrug 2022 der Anteil der Bevölkerung, der mit „Armutsbedrohung oder sozialer Ausgrenzung“ konfrontiert war, 23,3%.
A1 Von Armutsbedrohung oder sozialer Ausgrenzung betroffene Personen 2021 und 2022 in Niedersachsen, Deutschland und der EU in Prozent

Niedersachsen im EU-Vergleich mit leicht überdurchschnittlich hoher Armutsgefährdung

Der AROPE-Teilindikator der Armutsgefährdung wird innerhalb der EU-SILC-Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen in Europa (European Union Statistics on Income and Living Conditions) ähnlich definiert wie in der Amtlichen Sozialberichterstattung des Bundes und der Länder. Auch hier gilt als armutsgefährdet, wessen Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60% des Medianeinkommens entspricht. Das traf in Niedersachsen 2022 auf 16,9% (2021: 18,4%) der Bevölkerung zu, gemessen am Bundesmedian. Der EU-Durchschnitt lag mit 16,5% leicht darunter. Deutschlandweit waren es 14,8% (2021: 16,0%).

Allerdings bezieht sich dieser Wert nicht auf das Monatseinkommen, sondern auf das Jahreseinkommen im Vorjahr der Befragung. Für EU-weite Vergleiche bietet sich zwar die Verwendung dieses aus EU-SILC gewonnenen Indikators an. Jedoch reicht hierbei der Umfang der Stichprobe nicht aus, um für Niedersachsen tiefere Auswertungen nach Haushaltszusammensetzung vorzunehmen. Es ist somit kaum möglich, die besonders von Armutsgefährdung betroffenen gesellschaftlichen Teilgruppen zu identifizieren und einen Vergleich zu anderen Bundesländern zu ziehen.

A2: In Niedersachsen waren nach EU-Definition 2022 16,9% der Bevölkerung armutsgefährdet, bei einem EU-Durchschnitt von 16,5%.
A2 Quote der von Armut bedrohten Personen 2021 und 2022 in Niedersachsen, Deutschland und der EU in Prozent

Mehr Menschen in Niedersachsen 2022 von materieller und sozialer Entbehrung betroffen als im Vorjahr

Der zweite AROPE-Teilindikator zur sogenannten sozialen und materiellen Deprivation gibt Antworten darauf, wie viele Menschen sich bestimmte Dinge aus finanziellen Gründen nicht leisten können, die von den meisten Menschen für eine angemessene Lebensführung als wünschenswert oder notwendig angesehen werden (siehe Tabelle T2 und Abbildungen A3 bis A6). Die materielle und soziale Entbehrung wird dabei anhand von 13 Kriterien im Haushalts- und Personenkontext ermittelt:

Der Haushalt kann sich finanziell nicht leisten:

  1. Hypotheken, Miete, Rechnungen von Versorgungsbetrieben oder Konsum-/Verbraucherkrediten rechtzeitig zu bezahlen,
  2. die Unterkunft angemessen warm zu halten,
  3. jedes Jahr einen einwöchigen Urlaub an einem anderen Ort zu verbringen,
  4. jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder gleichwertiger Proteinzufuhr zu essen,
  5. unerwartet anfallende Ausgaben in Höhe von mindestens 1.150 Euro (Berichtsjahr 2022) aus eigenen Mitteln zu bestreiten,
  6. ein Auto zu besitzen (kein Firmen-/Dienstwagen),
  7. abgewohnte Möbel zu ersetzen.

Die Person kann sich finanziell nicht leisten:

  1. abgetragene Kleidungsstücke durch neue (nicht Second-Hand-Kleidung) zu ersetzen,
  2. mindestens zwei Paar passende Schuhe in gutem Zustand zu besitzen,
  3. wöchentlich einen geringen Geldbetrag für sich selbst aufzuwenden,
  4. regelmäßigen Freizeitaktivitäten nachzugehen (z. B. Kino- oder Konzertbesuche oder sportliche Aktivitäten, wenn diese Geld kosten),
  5. sich mindestens einmal im Monat mit Freundinnen und Freunden oder der Familie zu treffen, um gemeinsam etwas zu trinken oder zu essen,
  6. eine Internetverbindung zu haben.

Erhebliche materielle und soziale Entbehrung (Deprivation) liegt vor, wenn mindestens 7 der 13 Kriterien aufgrund der Selbsteinschätzung des Haushalts beziehungsweise der Person erfüllt sind. In Niedersachsen traf dies 2022 auf 7,3% der Bevölkerung zu, bundesweit auf 6,2%, und auf EU-Ebene lag der Anteil bei 6,7% (2021: Niedersachsen: 4,9%, Deutschland: 4,3%, EU: 6,3%).

Der Blick auf die Vorjahreszahlen zeigt, dass sich die hohe Preisentwicklung bemerkbar macht. Der Anstieg lag in Niedersachsen bei +2,4 Prozentpunkten. Bei den einzelnen Kriterien fielen die Veränderungen zum Teil noch deutlich höher aus.

A3: In Niedersachsen waren 2022 insgesamt 7,3% der Bevölkerung und bundesweit 6,2% von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen.
A3 Unter erheblicher materieller und sozialer Deprivation leidende Personen 2021 und 2022 in Niedersachsen, Deutschland und der EU in Prozent

Jeder zweite armutsgefährdete Haushalt in Niedersachsen konnte sich keinen einwöchigen Urlaub leisten

Beispielsweise konnte es sich 2022 mehr als jeder vierte Haushalt (26,2%) in Niedersachsen nicht leisten, mindestens eine Woche Urlaub pro Jahr woanders als zu Hause zu verbringen (+3,5 Prozentpunkte zu 2021). Bei armutsgefährdeten Haushalten war es etwa jeder zweite (51,0%; +4,3 Prozentpunkte) und bei den nicht armutsgefährdeten Haushalten rund jeder fünfte (21,1%; +3,8 Prozentpunkte).

A4: Beispielsweise konnte sich 2022 mit 26,2% mehr als jeder vierte Haushalt in Niedersachsen es sich nicht leisten, mindestens eine Woche Urlaub pro Jahr woanders als zu Hause zu verbringen.
A4 Soziale und materielle Entbehrungen der Haushalte nach den Kriterien der wirtschaftlichen Belastung (Selbsteinschätzung) in Niedersachsen 2021 und 2022 nach soziodemografischen Merkmalen – Anteil der Bevölkerung in Prozent

Keine vollwertige Mahlzeit alle zwei Tage für jeden vierten armutsgefährdeten Haushalt in Niedersachsen

Etwa jeder achte Haushalt (12,9%) war finanziell nicht im Stande, sich jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder gleichwertiger Proteinzufuhr zu leisten. Unter den armutsgefährdeten Haushalten war es sogar jeder vierte Haushalt (24,3%). Zudem waren etwa vier von zehn Haushalten (39,2%) und rund zwei Drittel (65,5%) der armutsgefährdeten unter ihnen nicht in der Lage, unerwartet anfallende Ausgaben in Höhe von mindestens 1.150 Euro zu bestreiten. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert bei den Haushalten insgesamt um 3,2 Prozentpunkte an.

Die sozialen Aspekte unter den Teilhabeindikatoren zeigen, dass etwa jede beziehungsweise jeder Siebte (14,6%) und unter den armutsgefährdeten Personen fast jede dritte (32,0%) sich regelmäßige Freizeitaktivitäten, die Geld kosten, nicht leisten konnten. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutete dies noch einmal einen kräftigen Anstieg um 3,9 Prozentpunkte (Anteil insgesamt) beziehungsweise um 9,7 Prozentpunkte unter den armutsgefährdeten Personen.

A5: Bei armutsgefährdeten Haushalten konnten sich zum Beispiel 51,0% sich keinen einwöchigen Urlaub leisten. 24,3% konnten sich nicht jeden zweiten Tag eine vollwertige warme Mahlzeit leisten.
A5 Soziale und materielle Entbehrungen der Haushalte nach den Kriterien der wirtschaftlichen Belastung (Selbsteinschätzung) in Niedersachsen 2021 und 2022 nach soziodemografischen Merkmalen – Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung in Prozent

Ausgehen mit Freunden oder Familie für jede fünfte armutsgefährdete Person in Niedersachen nicht möglich

Mindestens einmal im Monat mit Freunden oder der Familie für ein Getränk oder eine Mahlzeit zusammenzukommen, konnten sich 9,3% der Menschen in Niedersachsen und 19,6% der armutsgefährdeten unter ihnen finanziell nicht leisten. Auch hier stiegen die Anteile im Vergleich zum Vorjahr wie bei fast allen 13 Einzelaspekten der sozialen und materiellen Entbehrungen an. Selbst auf den Internetanschluss mussten 2022 mehr Menschen aus finanziellen Gründen verzichten als ein Jahr zuvor, obwohl die Kosten hierfür deutlich unterdurchschnittlich gestiegen waren. In der Gesamtbevölkerung lag der Wert bei vergleichsweise niedrigen 3,1%, bei den von Armut bedrohten bei 10,8%.

A6: Bei nicht armutsgefährdeten Haushalten konnten sich beispielsweise 21,1% keinen einwöchigen Urlaub leisten.
A6 Soziale und materielle Entbehrungen der Haushalte nach den Kriterien der wirtschaftlichen Belastung (Selbsteinschätzung) in Niedersachsen 2021 und 2022 nach soziodemografischen Merkmalen – Anteil der nicht armutsgefährdeten Bevölkerung in Prozent

Rund 11% der bis unter 65-Jährigen in Niedersachsen lebte 2022 in Haushalten mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung

Neben der Armutsgefährdung und der materiellen Deprivation betrachtet der dritte AROPE-Teilindikator Personen im Alter von 0 bis unter 65 Jahren, die in „Haushalten mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung“ leben. Ein Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung liegt dann vor, wenn die tatsächliche Erwerbsbeteiligung der im Haushalt lebenden, erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder im Alter von 18 bis unter 65 Jahren insgesamt weniger als 20% der potenziellen Erwerbsbeteiligung des Haushalts beträgt. Nicht darunter fallen Studierende im Alter von 16 bis unter 25 Jahren und Personen im Ruhestand nach Selbsteinschätzung oder Ruhegehaltsbezug sowie Personen im Alter von 60 bis 64 Jahren, die inaktiv sind und in Haushalten mit Ruhegehalt als Haupteinkommen leben.

In Niedersachsen lebten nach dieser EU-Definition 2022 insgesamt 10,9% der Bevölkerung in Haushalten mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung, was in der Regel entsprechend niedrige Haushaltseinkommen zur Folge hat.

Aus dem Mikrozensus ging 2022 darüber hinaus hervor, dass 7,7% der Bevölkerung in der Altersgruppe 18 bis unter 60 Jahre in Niedersachsen in Haushalten lebten, in denen niemand einer Erwerbstätigkeit nachging (Deutschland: 7,8%)1https://www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/erwerbsbeteiligung/personen-im-haushalt-ohne-erwerbstaetige Tabelle D.1 Personen im Haushalt ohne Erwerbstätige, Bundesländer nach Alter und Geschlecht ab 2020)..  Bei den unter 18-Jährigen lag der Anteil derjenigen, die in Haushalten ohne Erwerbsbeteiligung wohnten, bei 8,8% (Deutschland: 8,6%).

A7: In Niedersachsen lebten 2022 insgesamt 10,9% der Bevölkerung in Haushalten mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.
A7 Personen in Haushalten mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung 2021 und 2022 in Niedersachsen, Deutschland und der EU in Prozent

Zusammenfassung

Für viele Menschen in Niedersachsen hat sich die soziale Lage 2022 verschärft: Die Haushaltseinkommen sind zwar allgemein gestiegen, das was die Menschen beziehungsweise Haushalte sich davon jedoch noch leisten konnten, ist weniger geworden. Grund dafür war insbesondere die hohe Inflation und die damit einhergehenden Reallohnverluste von durchschnittlich 4,5%. In der Folge stieg auch der Anteil der Bevölkerung, der von materieller und sozialer Entbehrung betroffen war.

Die Lage hat sich jedoch nicht nur für „einkommensschwache“ Haushalte verschlechtert, sondern auch für solche, deren Einkommen über der Armutsgefährdungsschwelle lagen. So war beispielsweise auch für mehr als jeden fünften nicht armutsgefährdeten Haushalt ein einwöchiger Urlaub nicht möglich und ein Drittel konnte aus finanziellen Gründen keine unerwarteten Ausgaben in Höhe von 1.150 Euro stemmen.

Für das Jahr 2023 deuten die Arbeitsmarktlage und die gestiegenen Löhne daraufhin, dass die Armutsgefährdung das Niveau der letzten drei Jahre eher nicht überschreiten wird. Aufgrund der zurückgehenden Inflationsraten und staatlichen Unterstützungen dürften auch die Zahlen zur sozialen und materiellen Entbehrung nicht in dem Maße wie 2022 ansteigen.

Ein umfangreicher Überblick zur sozialen Lage in Niedersachsen findet sich im Statistikteil der jährlich vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung herausgegebenen und im Landesamt für Statistik Niedersachsen erstellten Handlungsorientierten Sozialberichterstattung wieder.

Fußnoten