Dieser Beitrag beleuchtet die Entwicklung von Einschätzungen zu Kindeswohlgefährdungen der Jugendämter in Niedersachsen in den Jahren 2017 bis 2023. Dieser Zeitraum umfasst somit auch die Berichtsjahre, die ab März 2020 durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen, Quarantänebestimmungen und Lockdowns mit besonderen Herausforderungen geprägt waren.
Kinder und Jugendliche haben laut UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Ist das Wohl eines Kindes gefährdet, so nimmt das zuständige Jugendamt eine Gefährdungseinschätzung vor. Auf Basis dieser Einschätzung werden gegebenenfalls weitere Maßnahmen zum Schutz des Kindes oder der jugendlichen Person eingeleitet.
Kinder- und Jugendhilfestatistik zu den Gefährdungseinschätzungen
Mit Hilfe der Kinder- und Jugendhilfestatistik zu den Gefährdungseinschätzungen, die fortlaufend als Totalerhebung durchgeführt wird, werden alle Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung statistisch erfasst. Hierfür melden Jugendämter als öffentliche Träger der Jugendhilfe an das jeweilige Statistische Landesamt Angaben
- zum Kind bzw. Jugendlichen,
- zum gewöhnlichen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung,
- zur Institution oder Person, die die Gefährdung bekannt gemacht hat,
- zur Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung,
- zum Ergebnis der Gefährdungseinschätzung,
- zur Art der Gefährdung,
- zu eingeleiteten bzw. geplanten Hilfen als Ergebnis der Einschätzung und
- zu Informationen über die Anrufung des Familiengerichts.
Die Entwicklung der Kindeswohlgefährdungseinschätzungen in Niedersachsen in den Jahren 2017 bis 2023
Stellt das Jugendamt eine Gefährdungssituation fest, wird unterschieden zwischen einer akuten und einer latenten Gefährdung. Liegt eine akute Gefährdung vor, so bedeutet dies eine sofortige und schwerwiegende Bedrohung des Kindes. Eine latente Kindeswohlgefährdung bezieht sich auf eine potentielle Gefährdung, die sich noch nicht akut auswirkt. Diese beiden Einschätzungen zur Gefährdung des Kindeswohls haben sich in den Jahren 2017 bis 2023 deutlich verändert.
Latente Kindeswohlgefährdungen in Niedersachsen bis 2023 deutlich gestiegen
Die Anzahl der festgestellten latenten Kindeswohlgefährdungen in Niedersachsen ist seit 2017 deutlich von 1.473 auf 2.128 (+44,5%) gestiegen. Die jährliche Zunahme an latenten Kindeswohlgefährdungen lag in den Jahren 2018, 2019 und 2020 bei ungefähr 15%, von 2020 auf 2021 betrug die Steigerung ca. 4%. Von 2021 zu 2022 sank die Zahl an latenten Kindeswohlgefährdungen um 14,2%, blieb aber im Vergleich zu den ersten beiden Jahren des betrachteten Zeitraums auf hohem Niveau. 2023 ist im Vergleich zum Vorjahr wiederum eine Steigerung um 6,3% zu verzeichnen gewesen.
Bei den festgestellten akuten Kindeswohlgefährdungen gab es eine Steigerung, wenn auch keine kontinuierliche, von 1.517 im Jahr 2017 auf 2.133 Fälle im Jahr 2023 (+40,6%). Der stärkste Anstieg ist vom Jahr 2018 auf 2019 zu verzeichnen (+29%). Im Jahr 2019 wurden mit 2.111 Fällen die zweitmeisten akuten Kindeswohlgefährdungen in Niedersachsen im Betrachtungszeitraum festgestellt. Die im März 2020 einsetzende Corona-Pandemie führte zu einem Absinken der dokumentierten akuten Kindeswohlgefährdungen um 12,0% auf 1.858 Fälle. Von 2020 auf 2021 ist die Anzahl wieder deutlich um 8,7% gestiegen. Zum Jahr 2022 sank die Anzahl an akuten Kindeswohlgefährdungen im Vergleich zum Vorjahr um 2,0%. 2023 stieg die Anzahl auf das bislang höchste Niveau von 2.133 akuten Kindeswohlgefährdungen (+7,8%).
Mehr Verfahren in Niedersachsen
Die Anzahl der Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls ist in den Jahren 2017 bis 2023 in Niedersachsen von 10.987 auf 18.370 Fälle (+67,2%) gestiegen. Insbesondere Verfahren, in denen keine Kindeswohlgefährdungen festgestellt wurden, nahmen zu. Im Jahr 2017 gab es davon 7.997 Verfahren. Im Jahr 2023 waren es 14.109 und damit 76,4% mehr. Besonders stark fiel der Anstieg bei Verfahren aus, die keine Kindeswohlgefährdung und keinen (weiteren) Hilfebedarf festgestellt haben (+88,7%). Dies ist unter Umständen auf eine stärkere Sensibilisierung beim Schutz von Kindern und Jugendlichen zurückzuführen. Bei Verfahren, in denen zwar keine Kindeswohlgefährdung aber dafür Hilfebedarf festgestellt wurde, gab es eine Steigerung um 63,6%.
Im Vergleich dazu stieg im gleichen Zeitraum die Anzahl der Verfahren mit dem Ergebnis einer Kindeswohlgefährdung um 42,5% (2017: 2.990; 2023: 4.261). Verfahren mit dem Ergebnis einer akuten Kindeswohlgefährdung nahmen in diesem Zeitraum mit 40,6% etwas weniger stark zu als Verfahren mit dem Ergebnis einer latenten Kindeswohlgefährdung mit 44,6%.
T1 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls nach § 8a Absatz 1 SGB VIII nach Ergebnis des Verfahrens für die Jahre 2017 bis 2023
Ergebnis der Einschätzung | 2017 | 2018 | 2019 | 2020 | 2021 | 2022 | 2023 | |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Verfahren insgesamt | 10.987 | 12.606 | 14.144 | 15.015 | 17.164 | 17.448 | 18.370 | |
Kindeswohlgefährdung | 2.990 | 3.338 | 4.054 | 4.090 | 4.350 | 4.395 | 4.261 | |
davon | ||||||||
akute Kindeswohlgefährdung | 1.517 | 1.635 | 2.111 | 1.858 | 2.019 | 1.979 | 2.133 | |
latente Kindeswohlgefährdung | 1.473 | 1.703 | 1.943 | 2.232 | 2.331 | 2.001 | 2.128 | |
keine Kindeswohlgefährdung | 7.997 | 9.268 | 10.090 | 10.925 | 12.814 | 13.053 | 14.109 | |
davon | ||||||||
Hilfebedarf | 3.918 | 4.331 | 4.614 | 5.090 | 5.762 | 6.175 | 6.411 | |
kein (weiterer) Hilfebedarf | 4.079 | 4.937 | 5.476 | 5.835 | 7.052 | 7.293 | 7.698 |
Wer macht die Kindeswohlgefährdungen bekannt?
Um Gefährdungen zu erkennen und Kindern und Jugendlichen angemessen helfen zu können, ist das Melden eines Verdachtes durch Institutionen oder Personen unabdingbar. Im Jahr 2023 wurden in Niedersachsen etwa ein Drittel der Fälle durch die Polizei, Gerichte oder die Staatsanwaltschaft gemeldet. Schulen standen mit 12,0% an zweiter Stelle, gefolgt von anonymen Meldenden in 11,8% aller Fälle. Bekannte und Nachbarinnen oder Nachbarn machten einen Anteil von 7,5% aus. Durch diese Institutionen bzw. Personen wurden zwei Drittel aller Fälle gemeldet.
Von Eltern oder Personensorgeberechtigten kam in 5,1% der Fälle Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung. Aus dem medizinischen Bereich (Hebamme/Ärztliches Personal/Gesundheitsamt u. ä.) wurden 4,0%, von Verwandten 3,9% und von Kindertageseinrichtungen/-pflegepersonen sowie dem Sozialen Dienst oder Jugendämtern wurden 3,5% der Gefährdungen gemeldet.
Starker Anstieg der Meldungen von Polizei und Gerichten in Niedersachsen
Im Verlauf der Jahre 2017 bis 2023 sind die Fälle, welche von Polizei, Gerichten oder Staatsanwaltschaften in Niedersachsen gemeldet wurden, besonders stark gestiegen (2017: 2.828; 2023: 6.390). Dies entspricht einer Steigerung um 126,0%. Im ersten Corona-Jahr 2020 gab es im Vergleich zum Vorjahr jedoch ein deutlich geringeres Wachstum als in den übrigen Jahren. Durch Schulen gemeldete Gefährdungen nahmen im Betrachtungszeitraum am zweitstärksten um 79,0% zu (2017: 1.230; 2023: 2.212). Am drittstärksten nahmen Meldungen durch anonyme Melderinnen und Melder um 70,8% zu (2017: 1.267; 2023: 2.164).
Schulen und Kindertageseinrichtungen bzw. Pflegepersonen meldeten zum ersten Corona-Jahr (2020) hin seltener einen Gefährdungsverdacht als im Jahr zuvor. Hier spielt der zeitweilige Lockdown und die eingeschränkten Möglichkeiten, Kindertageseinrichtungen und Schulen zu besuchen, eine Rolle.
Bekannte, Nachbarinnen und Nachbarn sowie anonym Meldende wiesen im ersten Corona-Jahr (2020) häufiger auf Verdachtsfälle hin als in den Jahren zuvor. Die statistischen Zahlen bilden damit die Lebenswelten zu diesem Zeitpunkt ab. Insbesondere in der Zeit der Corona-Lockdowns, in der viele Menschen auf ihr häuslichen Umfeld beschränkt waren, fielen Verdachtsfälle für Kindeswohlgefährdungen eher in der Nachbarschaft als in Institutionen wie Schule und Kindertageseinrichtungen auf.
Fazit
In den Jahren 2017 bis 2023 stieg die Anzahl an Verfahren zur Kindeswohlgefährdungseinschätzung in Niedersachsen stetig an. Die Anzahl an akuten Kindeswohlgefährdungen hat im Jahr 2023 den Höchststand und somit die Entwicklung, welche sich 2019 vor der Corona-Pandemie abzeichnete, fortgesetzt. Verfahren mit dem Ergebnis einer latenten Kindeswohlgefährdung hatten ihren Höchststand im Jahr 2021.
Verfahren, bei denen weder eine akute noch latente Kindeswohlgefährdung festgestellt wurden, nahmen seit 2017 stetig zu und machen einen Anteil von ca. drei Viertel an allen Einschätzungen zur Kindeswohlgefährdung in Niedersachsen aus.